Bist du denn jetzt geheilt?
Wie beginnt man eine Kolumne? Am besten, indem man den Leser:innen gleich sagt, was sie erwartet. Ich bin schizophren. Oder besser: Ich hatte zwischen 2004 und 2014 viel mit paranoider Schizophrenie zu kämpfen. Damals war ich Student, Referendar, dann sechs Jahre Rechtsanwalt. Ich erlebte Wahnvorstellungen, hörte Stimmen und vor allem befand ich mich in langen Phasen mit schweren Depressionen.
2020 habe ich ein Buch über meine Erkrankung geschrieben. Auf meiner aktuellen Lesereise durch Deutschland und Österreich bekomme ich immer wieder dieselbe Frage gestellt: „Sind Sie denn jetzt geheilt?“ Es besteht wohl eine große Sehnsucht nach Heilung bei den Betroffenen und Angehörigen im Publikum. Heute muss ich bei der Frage schmunzeln. Früher habe ich gestutzt, was ich darauf antworten soll.
Klar, es geht mir seit 10 Jahren die meiste Zeit sehr gut. Ich fühle mich nicht wirklich krank. Ich mag meinen Alltag und habe eine hohe Lebensqualität. Trotzdem treten hin und wieder Symptome auf. Das erschreckt mich heute nicht mehr. Ich kann damit umgehen. Diese Ereignisse sind für mich normal und behindern mich nicht groß. Es gibt aber auch immer einmal Tage, an denen es mir damit nicht so gut geht. Wäre es nicht vermessen, zu sagen, ich sei geheilt?!
Dann ist da noch die Sache mit der Medizin. Das ist auch so eine Frage, die den Menschen wichtig zu sein scheint: „Nehmen Sie noch Medikamente?“ Wer Tabletten nimmt, scheint noch zu dem Kranken zu gehören und ist nicht geheilt. In der Vorstellung vieler unterdrücken die Medikamente ja nur die Symptome. Ohne sie kämen sie dann sofort wieder, glauben sie.
Die Tabletten regeln den Hirnstoffwechsel in meinem Gehirn. Ich nehme auch heute noch eine geringe Dosis, vor allem zur Prophylaxe. Sie ändern nicht mein Wesen oder meine Persönlichkeit. Sie stellen mich auch nicht einfach nur ruhig. Sie bringen meinen Hirnstoffwechsel auf ein normales Maß. Bei Diabetes oder Bluthochdruck wäre es für die Menschen nicht so entscheidend, ob jemand Medikamente nimmt, um sie als krank oder gesund einzuteilen. Bei psychischen Erkrankungen wollen Menschen aber eine klare Abgrenzung.
Ich arbeite seit vier Jahren als Genesungsbegleiter im psychiatrischen Landeskrankenhaus in Düsseldorf. Um dort arbeiten zu können, habe ich einen Kurs absolviert. Mein Buch war damals schon veröffentlicht.
In diesem Ex-In-Kurs habe ich zum ersten Mal etwas von der Salutogenese" gehört, der Lehre von der Gesundheit Demnach ist kein Mensch hundertprozentig gesund. Das gibt es in dieser Lehre nicht. Aber auch kein Mensch ist hundertprozentig krank. Jeder gesunde Mensch hat auch kranke Anteile und jeder Kranke, egal wie krank, hat immer auch gesunde. Es geht darum, mit den gesunden Anteilen zu arbeiten, sie zu fördern. So bewegt sich jeder Mensch auf einer Skala zwischen den Extrempolen “krank" und "gesund". Mal ist er mehr bei "gesund", mal mehr bei "krank". Man kann und sollte etwas dafür tun, mehr bei "gesund" zu sein.
Die Recovery also - noch so ein Begriff, den ich im Ex-In-Kurs gelernt habe -ist eine unablässige Reise, ein Prozess, der eigentlich nie abgeschlossen ist. Man erholt sich, es geht einem besser, und dann kommen wieder neue Herausforderungen und schwierige Phasen im Leben. Bei jedem.
Bin ich denn jetzt geheilt?
Ich bin unterwegs. Mir geht es gut, meistens. Ich bin sehr zufrieden und dankbar für mein Leben. Das ist für mich das Wichtigste. Vielleicht brauche ich gar keine Heilung. Ich habe nicht mehr die Sehnsucht nach Heilung, weil es mir ja nicht schlecht geht.
Die Gesellschaft hingegen denkt zum größten Teil in schwarz-weiß, krank oder gesund. Sie braucht Kategorien. Erst wenn man geheilt ist, gehört man wieder zu den Gesunden. Vielleicht sind mir solche Kategorien nicht mehr so wichtig. Wirklich wichtig ist mir, wie ich mich fühle. Und ich fühle mich gut, meistens.
Psychopharmaka: Segen oder Fluch?
Meine erste Psychose im Jahr 2007 wurde sehr lange nicht behandelt. So bin ich allmählich immer tiefer in einen Wahn abgerutscht. Ich dachte, in meiner Wohnung seien Mikrofone und Kameras installiert, die alles, was ich tat, aufzeichneten. Tausende und abertausende Menschen würden diese Übertragung verfolgen, sich über mich lustig machen, ja sogar im Radio und im Fernsehen über mich sprechen. Ich war verzweifelt und brach mehrmals am Tag völlig aufgelöst zusammen. Wehren konnte ich mich dagegen nicht. Im nächsten Moment war ich dann wieder euphorisch, lief durch die Wohnung und sprach in die nicht vorhandenen Kameras und Mikrophone. Das ging so über ein Jahr. Zum Schluss hörte ich auch noch Stimmen, die mein Verhalten kommentierten und auf mich einredeten.
Irgendwann landete ich dann beim Psychiater und folglich in einer psychiatrischen Klinik. Dort bekam ich als erstes ein Neuroleptikum. Neuroleptika werden heute auch Antipsychotika genannt und werden zur Behandlung von Psychosen eingesetzt. Sie beeinflussen den Hirnstoffwechsel und hemmen vor allem die Aufnahme von Dopamin und anderen Botenstoffen an den Rezeptoren der Synapsen im Gehirn. Schon nach einer Woche verschwanden die Stimmen. Und nur wenige Tage später kam der Moment, wo mir von jetzt auf gleich klar wurde: „Das hast du dir alles nur eingebildet.” All das, was über Monate meine Realität war und mein Leben bestimmt hatte, war nie passiert. Es war nur in meinem Kopf abgelaufen. Ich hatte mit Wahnvorstellungen in meiner Wohnung gesessen, aber niemand sonst hatte auch nur irgendwie Notiz von mir genommen.
Diese Erfahrung war natürlich erstmal eine riesige Erleichterung. Das also konnten Medikamente! Einen völlig abstrusen, verfestigten Wahn vollständig auflösen! Gleichzeitig war ich durch meine Erlebnisse auch tief verunsichert und hatte Zukunftsängste. Deshalb stürzte ich mich direkt nach der Klinik in meine Arbeit bei einer großen internationalen Anwaltskanzlei. Danach begannen für mich sechs schwere Jahre.
Die ganze Zeit über war ich fast durchgehend depressiv. Ich schleppte mich durch den Job. Jeder Tag ein zäher Kampf. Privat unternahm ich fast nichts mehr. Dies sprach ich auch immer wieder bei meinem Psychiater an. Ich glaubte ja noch bedingungslos an Medikamente. Da musste man doch was machen können! Aber kein Antidepressivum brachte Besserung. Also wurde die Dosis meines Neuroleptikums über die Jahre immer weiter erhöht. Die Depressionen aber verschwanden dadurch nicht.
Mein Appetit hingegen wuchs gewaltig. Immer häufiger bekam ich Heißhungeranfälle. Ich kannte kein Sättigungsgefühl mehr und stopfte alles wahllos in mich hinein. Nachts wachte ich auf und aß den kompletten Kühlschrank leer. Oder ging ins Restaurant, aß eine komplette Mahlzeit, ging raus und sofort weiter ins nächste Fastfood-Restaurant und schob noch ein großes Menü hinterher. Irgendwann hatte ich von 90 kg auf 160 kg zugenommen. Dann stellte sich auch noch Inkontinenz ein.
Ich machte mir immer häufiger in die Hose. Auf der Arbeit schaffte ich es kaum noch von meinem Büro einmal über den Flur zur Toilette. Ohne dicke Einlagen ging ich nicht mehr aus dem Haus. Mein Neuroleptikum war da längst schon auf Maximaldosis eingestellt. Die Depressionen aber blieben.
Nach sechs Jahren konnte ich meiner Anwaltstätigkeit einfach nicht mehr nachgehen. Ich war dauerhaft krankgeschrieben. Auch meine Ehe zerbrach. Ich war verzweifelt. Ich hatte immer alles gemacht, was die Ärzte gesagt hatten, dennoch wurde es immer schlimmer. Meine Wut richtete sich nun zum ersten Mal auch gegen die Medikamente, auf die ich immer so vertraut hatte. Für mich waren sie nun an allem Schuld. Ich war entschlossen, nie wieder irgendwelche Psychopharmaka zu nehmen. Mein Neuroleptikum setzte ich von jetzt auf gleich ab.
Es dauerte keine drei Wochen und ich war wieder in einer heftigen Psychose. Völlig wahnhaft irrte ich durch die Stadt, wurde dann doch relativ schnell auffällig und von der Polizei aufgegriffen. Ich landete in der geschlossenen Abteilung einer psychiatrischen Klinik. Ich wollte fliehen, wurde festgehalten, weggespritzt und fixiert. Der Tiefpunkt.
Und gleichzeitig doch auch ein Wendepunkt. Ich wurde in eine Klinik verlegt, wo ein Arzt sich nochmal viel Zeit für mich nahm. Er sprach ausführlich mit mir, studierte meine schon ziemlich umfangreiche Krankenakte und probierte dann ein anderes Neuroleptikum. Auch diesmal verschwand der Wahn wieder nach kurzer Zeit. Außerdem bekam ich einen Stimmungsstabilisator. In ein Loch fiel ich diesmal nach der Psychose nicht. Im Gegenteil, ich blieb optimistisch gestimmt.
Als ich aus der Klinik entlassen wurde, war ich fest entschlossen, mich zurück ins Leben zu kämpfen. Noch wog ich 160 kg, aber ich hatte keine Heißhungeranfälle mehr. Mein Appetit war normal. Ich wollte den Kampf gegen die Pfunde angehen und begann jeden Tag mit Walking. Bald schaffte ich 10 km und mehr am Tag. Ich ging zu Aqua-Fitness-Kursen ins Schwimmbad, irgendwann drei-, viermal pro Woche. Die Pfunde purzelten. Irgendwann sah ich, dass im Schwimmbad eine Aushilfe gesucht wurde. Da ich gerade keinen Job hatte, eh ständig dort abhing und mich mit den Angestellten gut verstand, entschied ich mich, dort zu arbeiten. Ich machte mein Rettungsschwimmerabzeichen in Silber und wurde Aushilfsbademeister. Bald leitete ich selbst die Aqua-Fitness-Kurse. Es waren drei glückliche Jahre, die ich dort im Schwimmbad arbeitete, ehe mein Leben durch die Veröffentlichung meines Buches über meine Erfahrungen mit Schizophrenie nochmal eine Wendung nahm. Immer mehr wurde ich in Deutschland und in Österreich viel für Lesungen und Vorträge angefragt. Ich absolvierte einen Ex-In-Kurs und arbeite nunmehr selbst in einer psychiatrischen Klinik.
Heute habe ich das Gefühl, angekommen zu sein. Meine Arbeit und mein Leben im Allgemeinen bereiten mir die meiste Zeit viel Freude. Mein Neuroleptikum nehme ich nur noch in sehr geringer Dosis, gleichsam als Erhaltensdosis zur Prophylaxe. Nebenwirkungen habe ich keine.
In den Gesprächsgruppen, die ich in der Klinik und in einem sozialpsychiatrischen Zentrum leite, geht es auch oft um Medikamente. Manche Patient:innen sind mit ihrer Wirkung zufrieden, aber viele schimpfen auf sie und klagen über die Nebenwirkungen. Einige wollen gar nie wieder Medikamente nehmen. Ich kann all das verstehen.
Psychopharmaka können Fluch und Segen sein. Man darf und sollte die Medikation von Ärzt:innen kritisch hinterfragen. Man darf und sollte sagen, wenn man mit der Wirkung von Medikamenten unzufrieden ist. Man darf und sollte auch den Wunsch äußern, das verordnete Medikament zu wechseln. Es gibt immer mehrere Alternativen, und was für die einen Patient:innen gut passt, kann für die anderen das völlig falsche Medikament sein.
Letztlich ist es wichtig, gute Psychiater:innen zu finden, die sich Zeit nehmen, eine optimale Medikation und Dosis für ihre Patient:innen zu finden. Leider ist gerade Zeit für Patient:innen in unserem Gesundheitssystem immer knapp, und so laufen viele medikamentös schlecht eingestellt durchs Leben. Das führt zu einer geringen Bereitschaft, die verordneten Medikamente weiter zu nehmen und so unnötig zu weiterem Leidensdruck.
Psychopharmaka sind eine großartige Erfindung. Sie können Menschen von großem Leid befreien. Sie können aber auch viel Leid verursachen, wenn sie nicht richtig eingesetzt werden. Seit 2007 habe ich immer Medikamente eingenommen. Auch wenn sie mich immer wieder an den Rand der Verzweiflung gebracht haben, bin ich froh und dankbar, dass es sie gibt.
Machen psychische Erkrankungen kreativ?
„Künstler:innen haben alle einen Sprung in der Schüssel,“ so heißt es oft. Irgendwie ist da auch was dran, glaube ich. Jede Form von künstlerischer Betätigung hat etwas mit einem anderen Blickwinkel auf die Realität zu tun. Kunst wird dann interessant, wenn sie die gängigen Formen der Betrachtung verlässt und irgendwo den Rahmen sprengt. Kunst ist auch eine Suche nach einer Sprache in Schrift, Bild oder Musik abseits der Norm. Eine Suche, die über Wege führt, die mitunter auch gefährlich ist und in der man sich verirren kann.
Menschen, die psychische Krisen oder Krankheiten erleben, werden dadurch auch aus der Norm geworfen. Es zeichnet ein psychische Krankheit gerade aus, dass man in der Lebenswirklichkeit nicht mehr funktioniert. In diesen akuten Krisen wird man ganz auf sich selbst zurückgeworfen und steht auf einmal vor den großen existentiellen Fragen des Lebens, von Tod, Sinn, Spiritualität und Bedeutung. Häufig ist eine psychische Erkrankung eine Reise tief durchs eigene Unterbewusstsein. Man verlässt die Oberfläche der Existenz und taucht ab in die Welt der Zeichen und Symbole. Eine Psychose zum Beispiel lässt sich in vielen Bereichen mit einem Tagtraum vergleichen.
Muss man also vielleicht eine psychische Erkrankung oder Krise erlebt haben und Künstler:in zu werden? Oder macht eine allzu intensive Beschäftigung mit künstlerischen Betrachtungen vielleicht auf der anderen Seite krank? Ich glaube, Menschen, die an der Oberfläche des realen Lebens gut funktionieren, deren Leben in geregelten Bahnen verläuft, würden gar nicht auf die Idee kommen Künstler zu werden. Ich meine das nicht böse, und unterstelle ihnen auch nicht totale Oberflächlichkeit, aber sie sind doch mit Studium oder Ausbildung, Beruf, Karriere, Sport, Reisen, Familie ausgelastet.
Der Weg von Künstler:innen ist oft eine Art Notwehr, ein Ausweg, wenn man aus den geregelten Bahnen des Lebens geworfen wird. Vielleicht verliert man auch das Interesse an diesen geregelten Bahnen, wenn man einmal vor existenziellen Fragen des Lebens gestanden hat. Die Kunst des Scheiterns. Das ist sicherlich ein radikaler Weg.
Nicht jeder muss sich nach einer psychischen Krise gleich ganz radikal der Kunst verschreiben. Aber Kreativität kann helfen, aus der Krise wieder in ruhiges Fahrwasser zu kommen. Nicht umsonst gibt es Kunst-, Musik-, Theater-, Literatur- und Tanztherapie. Mir persönlich haben gerade die Kreativtherapien sehr geholfen. Vieles lässt sich einfach nur in der Welt der Zeichen und Symbole ausdrücken, und in dem man es ausdrückt, sortiert man, verarbeitet man, und gibt etwas von sich ab. Als Genesungsbegleiter biete ich kreatives Schreiben an. Vielen Patienten hilft das. Dabei entstehen oft wunderbare Texte.
Ich selbst schreibe auch immer noch Geschichten, Erzählungen oder Gedichte. Mir tut das gut und es bereitet mir Freude. Es ist wichtig für mich und meine psychische Gesundheit kreativ zu sein.
Wie öffne soll ich mit meiner psychischen Erkrankung umgehen?
Es gibt gute Gründe, eine psychische Erkrankung geheim zu halten – die Schublade etwa, in die man mit ihr gesteckt wird. Jeder hat seine Schubladen. Jeder steckt Menschen, die er nicht kennt, erst einmal in Schubladen. Das ist auch ganz normal. Schubladen schaffen Ordnung und Distanz, verstellen dabei aber auch den Blick auf die konkrete und immer neue Vielfalt des Lebens.
Immerhin helfen sie, grob zu sortieren, was man nicht näher kennt und schon deshalb als bedrohlich empfindet. Schizophrenie ist daher fast überall unterste Schublade. Mit bipolaren Menschen möchten viele ungern etwas zu tun haben. Auch Borderline hat keine große Lobby. Bei Depressionen, Burn-Out und Ängsten hat sich in den letzten Jahren hingegen viel getan. Diese Erkrankungen sind fast schon salonfähig geworden, aber auch sie stecken noch in Schubladen. Die sind nur durchlässiger und nicht mehr so weit unten platziert.
Es kann also sinnvoll sein, seine psychische Erkrankung zu verstecken. Zumal psychische Erkrankungen meist eher unsichtbar sind und sich daher gut verbergen lassen. Auch ich habe meine Diagnose paranoide Schizophrenie lange großteils geheim gehalten. Vor allem in meiner Arbeit als Rechtsanwalt in der Großkanzlei war meine ständige Sorge, dass irgendjemand etwas von meiner Erkrankung erfahren könnte, vor allem weil ich gerade erst von meinem Aufenthalt in der Psychiatrie zurückgekehrt bin, die man in Düsseldorf auch als Ballerburg kennt.
Ich kannte die Schublade für Schizophrenie nur allzu gut. Bevor ich selbst davon betroffen war, befand sich meine Schublade für Schizophrenie auch ganz unten, obwohl ich meinen Zivildienst immerhin in einer Kontaktstelle für psychisch Erkrankte geleistet hatte. Während dieser Zeit und selbst danach hielten sich zunächst noch meine Vorurteile gegenüber Schizophrenen.
Es ist wohl auch heute schwer vorstellbar, dass ein an Schizophrenie Erkrankter als Anwalt tätig ist. Das passt nicht zusammen, völlig unterschiedliche Schubladen. Also hatte ich in der Kanzlei immer die latente Angst eines Tages aufzufliegen. Mir ging es in dieser Zeit nicht wirklich gut. Ich war nicht psychotisch, aber ich litt durchweg unter der Negativsymptomatik der Schizophrenie. Das sind Phasen von schwerer Depression, Antriebslosigkeit und innere Leere, Emotionslosigkeit und bleierne Schwere. Meine Arbeit, mein Alltag, mein ganzes Leben waren für mich eine einzige Qual. Alles kostete mich wahnsinnig viel Überwindung. Dennoch funktionierte ich irgendwie über Jahre. Ich schleppte mich mehr schlecht als recht durch die Tage und die Arbeit.
Aber ja, natürlich litt die Qualität meiner Arbeit darunter. Nicht selten kam ich erst sehr spät ins Büro, machte oft Pausen und ging ständig zum Rauchen. Auch meldete ich mich immer mal wieder krank, wenn es mir morgens überhaupt nicht gelang, mich aufzuraffen. Irgendwann war es mal wieder so schlimm, dass ich erneut in eine Klinik musste. Ich war sechs Wochen krankgeschrieben. Und was sollte ich dann sagen, wenn ich danach zurück ins Büro kam? Nach sechs Jahren war die Belastung einfach zu groß. Ich schied aus dem Job als Rechtsanwalt aus. Es kamen noch andere Nackenschläge hinzu: die Trennung von meiner Frau beispielsweise oder eine weitereheftige Psychose und unversehens fand ich mich in der Erwerbsminderungsrente wieder. Das heißt, ich war nicht nur vorübergehend krankgeschrieben, sondern galt nunmehr als Frührentner mit 34 Jahren dauerhaft nicht in der Lage zu arbeiten. Die Rente war erstmal nur auf zwei Jahre befristet.
Für mich erwies sich dieser Bescheid auch als Erleichterung. Ich musste nicht mehrkämpfen, nicht mehr funktionieren, konnte endlich durchatmen. Schon bald sprach ich zunehmend offener über meine Erkrankung, konnte erklären, warum ich in Rente war, wenn das Gespräch einmal darauf kam, was ich denn beruflich so machte. Frührentner ist gesellschaftlich zwar auch keine allzu schöne Schublade, aber allemal vorzeigbarer als Schizophrenie. Immerhin erschien ich so von vorneherein erst einmal harmlos, wenn man mit mir sprach und nicht völlig irre. In dieser Zeit konnte ich mich nach und nach erholen.
Irgendwann begann ich auch wieder zu arbeiten. Über meinen Sport im Schwimmbad rutschte ich in die Arbeit als Aquafitnesstrainer und Schwimmlehrer, übernahm Schichten für die Badeaufsicht als Rettungsschwimmer und so langsam immer mehr. Ich sprach offen darüber, dass ich aus der Rente komme, erzählte von meiner psychischen Erkrankung, die nun aber hinter mir lag. Das war kein Problem, weder für mich noch für meine Kolleg:innen.
Gelegentliche Nachfragen zur Natur meiner Krankheit beantwortete ich geduldig und unbefangen. Manch einer zeigte sich erstaunt mit dem Tenor: „Ah, ok, so ist das. Bei Schizophrenie hatte ich jetzt erst mal eine andere Vorstellung“. Danach spielte meine Erkrankung bei der Arbeit keine Rolle mehr. Die meisten wussten es irgendwann, hatten davon gehört, aber ich war fortan nur noch ein netter, zuverlässiger und aufgeschlossener Kollege, mit dem man auch viel Spaß haben konnte. Es war eine schöne Zeit im Schwimmbad.
Aber irgendwann kam die Idee zu einem Buch über die Geschichte meiner Erkrankung. Mit anderen Worten: das öffentliche Outing.
Viele hatten mich davor gewarnt. Meine Eltern hatten große Bedenken. Auch die Eltern von Mitschüler:innen meines Sohnes hatten besorgt zu meiner Ex-Frau gesagt, der Jens solle lieber vorsichtig sein. Über so etwas spricht man besser nicht so laut. Die Leute reden dann.
Das Buch erschien trotzdem. Ich gab auch ein Interview für die Zeitung, ein lokaler Fernsehsender lud mich ein, es folgten größere Sender, überregionale Zeitungen. Es gab überraschend viel Zuspruch. „Sehr mutig!” - „Endlich spricht da mal jemand drüber”. Aber hintenrum, da sah es vielfach anders aus.
Irgendwie hatte jeder mal etwas über Schizophrenie gehört oder gesehen, in Büchern, im Fernsehen, meist Psychothriller. „War das nicht wie bei Dr. Jekyll und Mr. Hyde?” - „Ah genau, Split“ - „Gefährlich!” - „Unberechenbar!” - „Arme verrückte Spinner!” - so oder ähnlich schallte es aus dieser Echokammer.
Ja, die Leute redeten tatsächlich. Nicht mit mir, aber hinter meinem Rücken. Natürlich nicht alle. Bei meiner Arbeit als Genesungsbegleiter in der Klinik kam eine eine Patientin schallend lachend auf mich zu gelaufen und rief: „Ey, dich kenn ich, du wohnst doch bei mir in der Nähe. Du sitzt häufiger am Erftplatz vorm Café. Es gibt voll die Gerüchte über dich, du hättest Schizophrenie.“ Die Patientin, die das in der Klinik zu mir sagte, war übrigens selbst wegen einer Psychose dort.
Wenn ich in dieser Zeit in meiner Nachbarschaft über die Straße ging, grinsten immer wieder Menschen, die mich sahen oder schauten entsetzt oder verschämt weg. Es war ein bisschen wie Spießrutenlaufen. Es dauerte seine Zeit bis mich diese Stimmen nicht mehr erreichten. Dazu brauchte es viel ruhige, sachliche Überzeugungsarbeit, immer wieder freundlich auf Menschen zuzugehen, aufzuklären, Vertrauen zu schaffen.
Mein Buch ist jetzt seit vier Jahren auf dem Markt. Ich arbeite als Genesungsbegleiter in einer psychiatrischen Klinik, halte Vorträge über psychische Erkrankung, schreibe darüber, gebe Schulungen und Seminare. Die Leute haben sich daran gewöhnt. Sie können das in eine neue Schublade packen. Es ist keine ganz schlechte Schublade. Irgendwie ist das ja gut, wenn man selbst mal krank war und jetzt anderen hilft.
Mir geht es mittlerweile sehr gut. Keine Spur mehr von Depressionen. Ich fühle mich leistungsfähig wie vor der Erkrankung. Manchmal überlege ich, ob ich wohl wieder als Rechtsanwalt arbeiten könnte? Würde ich mir das zutrauen? Wahrscheinlich schon. Was wäre allerdings mit den Schubladen? Schizophrenie und Rechtsanwalt – würde das heute zusammenpassen in den Köpfen der Menschen?
Jeder Mensch steckt in vielen Schubladen. Das ist normal. Es liegt aber auch an uns, aus den Schubladen herauszukommen. Das ist möglich.
Vor allem sollten wir an uns selbst arbeiten und anderen die Möglichkeit geben,aus den Schubladen herauszukommen, in die wir sie für uns stecken. Mehr Offenheit bei uns selbst, und jedem Menschen die Chance geben, unsere Vorurteile gegen ihn zu wiederkehren.